Lebensbrief 02

Wenn die Psyche trauert - ein Lebensbrief von Andreas Oberhofer

Ich beziehe mich auf eine Vorlesung an den Lindauer Psychotherapiewochen 2012 von Ulrich Sachsse und Martin Sack zum Thema „Alles Trauma – oder was?“ und auf meine Ausbildung zum Traumahelfer im Rahmen meiner Studien und Fortbildung in Psychosomatik bei Prof. Thomas Loew, Regensburg (Universitätsklinikum Psychosomatische Medizin).

Mit Stand 2012 wurde damals bereits errechnet, dass durch das eigene Erleben von Traumata wie Unfällen, Verbrechen, Einbrüchen und Naturkatastrophen aber auch schweren Erkrankungen, Aufenthalten an Intensivstationen und sogar durch das Miterleben! von solchen traumatischen Erlebnissen jeder 6. bis 10. Beteiligte eine PTBS, das ist eine posttraumatische Belastungsstörung, entwickeln wird.

Man kann die Häufigkeit und Verteilung psychischer Störungen und Erkrankungen besser verstehen, wenn klar wird, dass, wie damals - 2012 dargestellt, statistisch gesehen in jeder ersten Schulklasse 4 Schüler im Laufe ihres Lebens an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkranken werden.

Abgesehen davon werden zusätzlich in jeder ersten Schulklasse 1 Person eine Suchterkrankung haben, 1 wird eine somatoforme Störung entwickeln, 1 Person wird Magersucht haben, 3 werden eine Angsterkrankung haben und 6-8 werden an einer depressiven Erkrankung leiden.

Das war 2012. Mit Ende 2021 haben unzählige Menschen mehr in Europa mit Hunderttausenden an COVID-19 Verstorbener, einer Vielzahl, die selbst auf einer Intensivstation waren und damit auch deren Eltern, Kinder, Partner, Freunde, Verwandte ein gravierendes Trauma oder gleich mehrere davon erlebt. Von diesen Traumatisierten werden etwa 0,6 bis 1 % an einer PTBS erkranken.

Damit hat sich die Berechnung von 2012 überholt. Psychische Probleme werden weiter zunehmen, häufiger sein und das auch bei Kindern, die diese Zeit miterleben.

Verschließen Sie nicht Augen, Ohren oder Sinne vor der Realität, wie es viele Impfgegner machen. Denn gerade die Flucht aus der Wirklichkeit ist der schnellste Weg in ein psychisches Problem.

Bleiben Sie trotz allem positiv. Leicht gesagt, oft schwer getan, doch nur ein Leben in der Realität ermöglicht es, die Realität zu ändern.

Eine posttraumatischen Belastungsstörung ist, wie es schon der Name sagt, eine Traumafolgestörung, die erst nach einem erlebten oder miterlebten Trauma auftritt. Doch der Zeitpunkt kann auf sich warten lassen, denn typischerweise tritt eine PTBS erst mit einer Verzögerung nach der psychischen Belastung auf.

Wenn man eine Auswahl von möglichen Symptomen einer PTBS beschreibt wie Übererregbarkeit, Nervosität und Schlafstörungen, Reizbarkeit oder andererseits emotionale Regungslosigkeit, innere Taubheit mit Passivität oder Rückzug und ganz besonders ein Vermeidungsverhalten mit Misstrauen, dann kann man realistisch diagnostizieren, dass die Gesellschaft nicht nur an einem Virus leidet, sondern auch an einer Virusfolgestörung.

Da die Gesellschaft aber aus einzelnen Menschen besteht, betrifft es sehr viele!

Daran sollten sie beim Neuauftreten oder sich Verstärken von psychischen Symptomen denken. Natürlich können sich psychische Probleme aber auch nur als körperliche Symptome zeigen.

In meiner Ordination halte ich für solche Fragen zur Abklärung auch diagnostische Fragebögen bereit. Natürlich gibt es auch einen indirekten Fragebogen, in dem Eltern das Verhalten ihres Kindes beschreiben können. Daraus lassen sich sowohl die Wahrscheinlichkeit einer solchen PTBS berechnen als auch deren Ausmaß abschätzen. Schnelles Handeln ist hier gutes Handeln.

Mit Zuversicht und herzlichen, ärztlichen Grüßen Ihr

Arzt und Präventologe

Iatros philosophos Dr. univ. med. Andreas Oberhofer M.A.

Bildnachweis: © Flavijus Piliponis – stock.adobe.com

Wir verwenden Cookies um unsere Website zu optimieren und Ihnen das bestmögliche Online-Erlebnis zu bieten. Mit dem Klick auf „Alle erlauben“ erklären Sie sich damit einverstanden. Weiterführende Informationen und die Möglichkeit, einzelne Cookies zuzulassen oder sie zu deaktivieren, erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung. Cookies jetzt individuell konfigurieren.